Rede zur Regionalkonferenz in Plochingen

22. Oktober 2012

Mobilität in der Sackgasse
Die Region Stuttgart ist die Herzkammer des Landes und ein Wirtschaftsstandort europäischen Ausmaßes. Auf 10 % der Fläche werden 30 % des Bruttosozialprodukts des Landes erwirtschaftet. Die Förderung der Wirtschaft und die Sicherung des Standorts gehört zu den vorrangigen Aufgaben des Verbands. Dazu gehört neben der Flächenbereitstellung vorrangig auch die Sicherung der Mobilitätsbedürfnisse. Das ist die Zukunftsaufgabe ersten Ranges.

Wir wissen, dass wir es hier mit besonderen Schwierigkeiten zu tun haben. Sowohl aus der Lage in der Landesmitte sowie aus der starken Verdichtung mit Wohnbevölkerung mit Wirtschaft ergeben sich ganz besondere Ansprüche an die Art, den Umfang und die Qualität der vorzuhaltenden Infrastruktur. Die Sicherung und der bedarfsgerechte Ausbau der Infrastruktur stärken die Wirtschafts- und Standortattraktivität und leisten damit einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des Arbeitsplatzangebots. Sie sind die Grundlage unseres Wohlstands und der Prosperität der Städte und Gemeinden.

Der Verband Region Stuttgart ist dabei ein wichtiger Akteur. Er ist Aufgabenträger der S-Bahn und Finanzierungsträger der Verbundstufe 2. Seine derzeit wichtigste Aufgabe besteht in der Aufstellung des Regionalverkehrsplans.

Nun finden wir hier kein weißes Blatt Papier vor. Wir müssen aufsetzen auf den Vorgaben des Bundesverkehrswegeplans und des Generalverkehrsplans des Landes. Das heißt, diese Vorgaben auf die Region herunter brechen und verfeinern.

Wenn wir auf diese Vorgaben blicken, haben wir allerdings wenig Grund zur Zuversicht, von einer perspektivischen Planung ganz zu schweigen, wenn wir sehen, wie viel von diesen Ansprüchen aus diesen Plänen bisher in die Realität umgesetzt wurden.

Wenn wir Mobilität gestalten wollen, tun wir gut daran, uns zunächst mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, „Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit“ (Erwin Teufel).

Wasserwege
Zahlreiche Unternehmen der exportorientierten Region Stuttgart sind stark auf die Nutzung der Wasserwege angewiesen. Hier bietet sich eine realistische Chance zur Entlastung der Straßen vom Schwerlastverkehr. Daraus ergibt sich die zwingende Forderung zum Ausbau der Schleusen zwischen Heilbronn und Plochingen für Schiffe bis 135 m. Unser Kollege Frank Buß hat ausgerechnet, dass bei einem entsprechenden Schleusenausbau 100 000 Lkw-Fahrten im Jahr von der Straße auf das Wasser verlagert werden können.

Dagegen ist die neueste Einstufung dieses Abschnitts in die Kategorie B durch den Bundesminister für Verkehr völlig unverständlich. Dass Sie Herr Minister ursprünglich den Schleusenausbau als nachrangig eingestuft haben, war dabei sicher nicht hilfreich.

Wir sind aber dankbar, dass Sie in der Zwischenzeit eine Kehrtwende vollzogen haben und zusammen mit dem Ministerpräsidenten die Angelegenheit zur Chefsache erklärt haben. In der Tat, wir müssen die Kräfte bündeln und den Bund zu einer Änderung seiner Haltung bewegen. Der Neckar darf nicht auf Jahrzehnte zur Wasserstraße 2. Klasse werden.

Straßenbau
Der Straßenbau ist das düsterste Kapitel in der Verkehrsinfrastruktur. Wir haben in der Region den täglichen Verkehrsinfarkt. Hier hat sich im vergangenen Jahr der Stau auf den Autobahnen und den Bundesstraßen auf 13 400 km summiert. Das entspricht der Entfernung Stuttgart – Peking. Wir sind mittlerweile Deutscher Meister in der Stauliga, kein gutes Aushängeschild für einen Wirtschaftsstandort europäischen Ausmaßes.

Kein Wunder, die Region hat 12 % des Straßennetzes aber 25 % des Verkehrs. Der Bund hat seine Mittel dramatisch gekürzt, damit sind bestenfalls Reparaturen möglich. Neue Projekte können auf Jahre hinaus nicht begonnen werden.

Dabei müssen wir das, was die Region braucht, nicht erfinden. Es steht im Bundesverkehrswegeplan und damit, wenn wir die Finanzierungsmöglichkeiten betrachten, in den Sternen. Der Bundesverkehrswegeplan ist zum Märchenbuch geworden.

Ich nenne dabei nur einige wenige wichtige Projekte:

  • Den achtspurigen Ausbau der A 8 von Leonberg bis Wendlingen.
  • Die Verbreiterung der A 81 von Pleidelsheim bis Zuffenhausen
    (im südlichen Teil planfestgestellt).
  • Den Ausbau der A 81 von Böblingen bis zum Autobahnkreuz Stuttgart.
  • Die 6-spurige Ertüchtigung der B 27 von Aichtal bis Degerloch.
  • Die Verlängerung der B 464 bei Holzgerlingen.
  • Den Lückenschluß der B 295 und der B 464 bei Renningen.

Wohlgemerkt alles nur Ausbauten, keine Neubauten, weil auch wir wissen, dass in der dicht besiedelten Region mit neuen Schneisen nur schwer realistische Möglichkeiten bestehen.

Nun verweisen Sie Herr Minister, wohl auch ein bisschen mit klammheimlicher Freude, auf Berlin, wohl wissend, dass es beim Land bei der Bewältigung dieser Hausaufgaben keineswegs besser aussieht.

Dazu nur zwei Zahlen:
Das Kostenvolumen sämtlicher Maßnahmen aus dem Generalverkehrsplan des Landes für Landesstraßen beträgt 2,5 Milliarden. Demgegenüber beträgt das aus der mittelfristigen Finanzplanung abgeleitete Mittelvolumen für Aus- und Neubauten im Landesstraßennetz in der vorgesehenen 10-jährigen Laufzeit des Maßnahmenplans Straße gerade mal ca. 380 Millionen.

Die Situation bei der Förderung der kommunalen Straßen nach dem Entflechtungsgesetz sieht genauso schlecht aus. Neue Bewilligungen sind aufgrund der unklaren Situation im Augenblick überhaupt nicht möglich.

Um die Situation in der Region zu analysieren, genügt ein Blick in den Belastungsplan, anhand dessen jeder die Problematik begreift ohne Verkehrswissenschaftler zu sein.

Wenn wir diese Karte betrachten, sehen wir unser Problem auf den ersten Blick. Der Region fehlt ein leistungsfähiger Ring um den Kern. Das heißt, eine Nord-Ost-Umfahrung. Das Bild erinnert an eine Herzkammer. Im Westen und Süden die stark belasteten Autobahnen. Im Nordosten verteilt sich der Verkehr in die Ortsdurchfahrten. An der Wilhelma und an der Neckarquerung bei Remseck ist das tägliche Chaos zu besichtigen.

Das ist die Schlüsselfrage für die Region.

Deshalb ist es für uns völlig unverständlich, dass Sie Herr Minister dafür gesorgt haben, diese Straße aus dem Bundesverkehrswegeplan zu nehmen und zuletzt auch den hoffnungsvollen Ansatz einer neuen Neckarbrücke bei Remseck, die kurz vor der Planfeststellung stand, eliminiert haben.

Sie haben persönlich das Aus für eine Brückenplanung verfügt, die als Teilausschnitt einer zweispurigen landschaftsverträglichen Verbindung zudem noch die Chance gehabt hätte, in diesem schwierigen Umfeld konsensfähig zu sein. Eine für uns unverständliche Entscheidung, die die Chance der Verbindung der Wirtschaftsräume Waiblingen und Ludwigsburg auf Jahre hinaus verbaut.

Genauso verhält es sich mit der Herausnahme des Ausbaus der LL 15 Backnang – Mundelsheim aus dem Maßnahmenplan des Landes, ohne jede fachliche Begründung, die wir ebenfalls als eines der dringendsten Ausbauvorhaben der Region, übrigens ebenfalls im Nord-Osten, betrachten.

Herr Minister, wir Freien Wähler stehen alle als Bürgermeister und Gemeinderäte mitten in der Praxis. Mangel an Geld gehört zu unserer täglichen Arbeit. Aber wir wissen aus jahrelanger Erfahrung, dass es doch eines Tages plötzlich aus irgend einem Topf Mittel gibt und dass es dann von großem Vorteil ist, fertige Pläne für den Tag X in der Schublade zu haben. Nein, Geldmangel werfen wir Ihnen nicht vor. Was wir aber beklagen, ist die absolut fehlende Bereitschaft, an der täglichen Situation orientiert zu planen und konzeptionell wirkungsvolle Strategien für die brennenden Probleme vor Ort zu entwickeln.

Auch bei Ihrer Strategie einer „nachhaltigen Mobilität“ habe ich angestrengt versucht, einen Ansatz für diese brennenden Probleme zu erkennen. Ich muss zugestehen, es ist mir nicht gelungen.

Mit Projekten wie Elektromobilität, Car-sharing, Car-to-go, Pedelecs und Radwegen wird sicher viel Charme vermittelt. Sicher auch die Aufmerksamkeit auf Verkehrsmittel der Zukunft gelenkt. Wir unterstützen das. Aber mit Verlaub, eine Lösung für die brennenden Probleme unserer Tage und der absehbaren Zukunft ist das nicht.

Bleibt noch die Frage zu untersuchen, ob der öffentliche Nahverkehr in der Lage ist, hier eine Perspektive aufzuzeigen.

ÖPNV
Der Verband Region Stuttgart ist, wie gesagt, Aufgabenträger der S-Bahn, dem Rückgrat des ÖPNV in der Region, und Finanzierungsträger der Verbundstufe 2. Also im Gegensatz zum Straßenbau unmittelbar handelnder Akteur.

Wie sieht es nun um die Entwicklung des ÖPNV in der Region aus? Bezogen auf den motorisierten Personenverkehr beträgt das momentane Anteilsverhältnis zwischen öffentlichem Verkehr und motorisiertem Individualverkehr 19 zu 81 %. Im Jahre 1995 lag es bei 18 zu 82 %. Es hat sich also kaum verändert, obwohl wir beim Verband Millionen kommunaler Mittel in die Hand genommen haben, um auch mit Hilfe des Landes erhebliche Verbesserungen in diesem Bereich vorzunehmen.

Wir haben Taktverdichtungen gemacht, Zugbehängungen verstärkt, Nachtverkehr eingeführt, Neubaustrecken auf der S 1, der S 40 und der S 60 installiert und wir haben das als Freie Wähler alles mitgetragen. Fazit: Wir müssen nach wie vor Millionen investieren, um auch nur den Status quo zu erhalten. Von einer Verlagerung vom Auto auf den ÖPNV ganz zu schweigen. Das ist die Realität aus den letzten 20 Jahren.

Doch wie sieht es mit dem weiteren Ausbau des ÖPNV in der Region als Ersatzfunktion für die überlasteten Straßen aus?

  • Die S-Bahn ist auf der Stammstrecke im City-Tunnel an der Kapazitätsgrenze. Mehr geht nicht hindurch.
  • Die einzige Entlastung auf die Fildern und die Verbesserung für die Regionalzüge im Zuge von Stuttgart 21 haben Sie, Gott sei Dank, erfolglos zu verhindern versucht.
  • Das Förderprogramm für die Infrastruktur (GVFG) läuft bis 2019 aus. Neue Maßnahmen, wie z. B. die S-Bahn-Verlängerung nach Neuhausen, die Stadtbahn auf die Fildern oder der S-Bahn-Anschluss Göppingen haben im Augenblick so gut wie keine Aufnahmechance.
  • Die Regionalisierungsmittel des Bundes, mit denen das Land den ÖPNV bezahlt, werden abgeschmolzen und reichen wohl schon 2013 nur noch knapp aus, um den laufenden Verkehr zu bezahlen.
  • Eigene Haushaltsmittel des Landes für den ÖPNV stehen schon lange nicht mehr zur Verfügung, ein Zustand den Ihre Partei immer beklagt hat, und sind wohl auch nicht in Aussicht.
  • Der Verband Region Stuttgart hat aus seiner Aufgabe und Trägerschaft für die S-Bahn mittlerweile ein Defizit an Trassen und Stationskosten in Höhe von jährlich 3 Millionen, die kommunalisiert sind, Kosten die sonst überall im Land aus Regionalisierungsmitteln bestritten werden.

Soviel zu den düsteren Ausbauchancen des ÖPNV als Ersatz für überlastete Straßen und wir fragen uns: Wo sind die Perspektiven?

Herr Minister, mit Verlaub, wir Freien Wähler betrachten diese Situation als unerträglich. Bund und Land kommen nach unserer Überzeugung ihrer Verantwortung um die Verkehrsinfrastruktur in keinster Weise nach und werden den Bedürfnissen unseres Wirtschafts- und Ballungsraumes auch nicht ansatzweise gerecht.

Was wir hier vorfinden ist nichts anderes, als der geplante Stillstand, Stillstand aber ist Rückschritt und eine erhebliche Gefahr für einen Wirtschaftsstandort im europäischen Wettbewerb. Eine Grundlage für einen Regionalverkehrsplan, der realistische Verbesserungen aufzeigen soll, ist das nicht.

Wir Freien Wähler wollen jedoch nicht nur die Situation beschreiben, sondern auch politische Forderungen erheben:

  1. Bund und Land müssen Ihrer Verantwortung für die Verkehrsinfrastruktur durch die unverzügliche Bereitstellung weiterer Mittel gerecht werden. Stillstand bei der Verkehrsinfrastruktur wird weder zu einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung führen, noch eine bedarfsgerechte Mobilität sichern.
  2. Politisch muss das Land stärker als bisher seinen finanziellen Nachholbedarf im Verhältnis zu den anderen Flächenländern betonen. Eine Mittelverteilung auf Bundes- wie auf Landesebene muss sich am Bedarf, also am Verkehrsaufkommen orientieren, und nicht am üblichen Länder- und Regionalproporz.
  3. Um baldmöglichst mehr Mittel für die Verkehrsinfrastruktur zu generieren, fordern wir die zügige Einführung einer Pkw-Autobahnmaut in Form einer Vignette. Die Mittel müssen zweckgebunden der Verkehrsinfrastruktur zufließen. Eine City-Maut lehnen wir ab, weil sie das Umland vom Regionskern abschotten. Ebenso das jahrelange Warten auf ein elektronisches Erfassungssystem, weil es keine kurzfristigen Lösungen für die finanzielle Problematik verspricht.
  4. Die Planungskapazitäten müssen wieder aufgestockt werden. Auch planerisch anspruchsvolle Projekte sollten zügig in Angriff genommen werden. Nur so ist sichergestellt, dass bei Anheben der Finanzierungsmittel auch die dringend benötigten Projekte umgesetzt werden können.
  5. Der Verband Region Stuttgart als Aufgabenträger der S-Bahn darf bei den Trassen- und Stationspreisen der DB nicht schlechter gestellt werden wie die anderen Landesteile, wo das Land diese Kosten zu 100 % trägt.

Schlusswort
Die hervorragende Ausgangsposition unserer Region als eine der leistungsstärksten Regionen europaweit ist auch Dank der Menschen und der Wirtschaft mit Innovationskraft, Flexibilität, Leistungswille und einer starken Orientierung am Gemeinwohl bei Zurückstellung von Individualinteressen erarbeitet worden. Dieser Status wird in Teilen der Gesellschaft durch ein Zunehmen des Bedürfnisses nach einem Ausruhen auf alten Leistungen, nach Stillstand, bedroht. Dies macht sich besonders bei Infrastrukturprojekten bemerkbar, die bereits Wohlstand und Zukunft unserer Kinder sichern sollen.

Wir Freien Wähler aber warnen, dass die Sonderstellung unserer Region nur erhalten bleiben kann, wenn sich die Gesellschaft den Herausforderungen der Zukunft stellt, Mängel benennt und mit den gebotenen Möglichkeiten behebt. Dort wo wir vertreten sind, in den Kommunen, und dort sind wir beileibe keine Minderheit, wollen wir dafür eintreten und werben. Dafür sollte dieser Abend dienen. Dafür brauchen wir aber verlässlichere Rahmenbedingungen der Politik, die wir im Augenblick leider nicht in genügendem Maße vorfinden. Auch dafür haben wir diese Veranstaltung ausgerichtet.

Herr Minister, wir danken Ihnen fürs Zuhören und hoffen, wir bleiben im Gespräch.

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Freie Wähler in der Region Stuttgart