Die wirtschaftsstarke Region Stuttgart darf nicht geschwächt werden

Die Regionalversammlung hat am Mittwoch die besonderen Belange der hoch verdichteten Region Stuttgart diskutiert. Bei einer differenzierten Grundsatzdebatte wurden die Leistungen von Metropolen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Problemlagen von Verdichtungsräumen deutlich. Mehrheitlich wurde beschlossen, die Interessen des Standortes Region Stuttgart zum einen in die Netzwerkarbeit des Verbands auf nationaler und internationaler Ebene einzubringen. Zum anderen ging ein Appell an das Land, sich auch für die Belange der Verdichtungsräume einzusetzen, wenn auf Bundesebene demnächst die Vorschläge der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter Vorsitz des Bundesinnenministeriums beraten werden. Absehbar liegt das Hauptaugenmerk der Kommission dabei eher auf der Förderung strukturschwacher Räume im ländlichen Raum. Jedoch dürfe man dabei die wirtschaftsstärkeren Räume nicht aus dem Blick verlieren, fordert der Verband Region Stuttgart. Denn trotz einer guten finanziellen Ausstattung liegen die Hemmnisse hier oft in schwierigen Rahmenbedingungen für ein notwendige Entwicklungen und angemessenes Wachstum. 

Für eine umfassende Beurteilung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ muss man auch die Beeinträchtigungen der Bevölkerung in strukturstarken Räumen im Blick haben: Zuwanderung, Wohnraumknappheit und hohe Mieten, dadurch eine Verdrängung finanzschwächerer Bevölkerungsgruppen aus zentralen Lagen, Mangel an Gewerbeflächen, überlastete Straßen, Busse und Bahnen und weniger Grünflächen für die Naherholung sind nur einige Beispiele. Gleichzeitig schwindet die Akzeptanz für neue Bauvorhaben, die den Wohnungsmarkt entspannen oder die Mobilität verbessern könnten. Hohe Dichte und hohe Wirtschaftskraft prägen die Region Stuttgart: Auf 10 Prozent der Fläche Baden-Württembergs werden in der Region Stuttgart 30 Prozent der landesweiten Wirtschaftsleistung erbracht. Auch für viele Einpendler aus anderen Teilen des Landes stellt die Region Stuttgart Arbeitsplätze und Infrastruktur bereit.

In seinem Diskussionsbeitrag sagte der Sprecher der Regionalfraktion, Bürgermeister Wilfried Wallbrecht:

Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse

„Der Begriff kommt aus dem Grundgesetz der Nachkriegszeit (Art. 72), allerdings damals als formale Norm (Gesetzgebungskompetenz Bund). Er ist auch die rechtliche Basis für Länderfinanzausgleich, Kommunaler Finanzausgleich, usw.

Das Raumordnungsgesetz spricht von „ausgeglichenen sozialen, infrastrukturellen, wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Verhältnissen im Gesamtraum (BRD) und seinen Teilräumen.

Interessant ist auch: „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist ein deutscher Begriff. In z.B. Skandinavien oder im angelsächsischen Raum ist er unbekannt. Seit ~ 1975 ist „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ein politischer Begriff, vor allem aber ein unbestimmter Begriff. Darüber gibt es viele unterschiedliche Expertenmeinungen. Politisch relevant wurde der Begriff in zwei Stufen,

  • ~ 1975 in Zusammenhang mit Förderung/Förderprogrammen für den ländlichen Raum, und mit dem Strukturwandel im Ruhrgebiet.
  • ~ 1989 im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung wurden „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ erklärtes politisches Handlungsziel.

Seit dieser Zeit hat sich einiges strukturell verändert. Trotz erheblicher Förderungen für den ländlichen Raum haben sich die Disparitäten stark vergrößert. Die Verdichtungsräume sind dichter und größer geworden, die strukturschwächeren Räume leerer und kleiner. Hier Infrastruktur, Arbeit, Bildung, ÖPNV, … – aber auch Dichtestress, Lärm, Luftverunreinigung, … dort geringere Einkommen, längere Wege zu Kultur, Bildung und Betreuung, Medizin, Versorgung, … – aber auch gute Luft, schöne Landschaft, wenig Verkehr.

2018 hat das neue Ministerium des Inneren, für Bau und Heimat eine Kommission gegründet, die Vorschläge für Handlungsempfehlungen bis Juli 2019 erarbeiten soll. Die Kommission hat schon getagt, Ergebnisse sind nicht bekannt. Wir Freien Wähler sind sehr dankbar, dass die Geschäftsstelle dieses Thema „präventiv“, „pro-aktiv“ auf die Tagesordnung gesetzt hat. Denn es ist zu befürchten, dass die Kommission nur die großen Unterschiede in Infrastruktur, Daseinsvorsorge, ÖPNV usw. zwischen strukturschwachen und strukturstarken Regionen bewertet. Aus der Sicht der Regionalversammlung Stuttgart muss jedoch für eine differenzierte Sichtweise, eine Gesamtschau, geworben werden:

  • Auch strukturstärkere Räume wie die Region Stuttgart, haben Nachteile:

– Strukturgefälle innerhalb der Region

– Verkehrsbelastung, Lärm- und Luftbelastung

– Höhere Lebenshaltungskosten, insbes. beim Wohnen

– Dichtestress (Staus, Wartezeiten,…)

– Längere Wege zu Erholung und Ruhe

  •  Ländliche Räume in Baden-Württemberg und in der Region Stuttgart sind selten richtig strukturschwach. Sie sind aber wichtig in ihrer Ausgleichsfunktion, in ihrer back-up-Rolle für Arbeitskräfte, Wohnen, Erholung, usw.
  •  In der Region Stuttgart wird > 30% der Wertschöpfung des Landes erbracht. Dies muss in  einer Gesamtbewertung berücksichtigt werden.

Die Kommission beim Ministerium muss darauf hingewiesen werden, dass der ländliche Raum, der wirklich strukturschwache Raum (Mecklenburg-Vorpommern, Teile von Sachsen-Anhalt), nicht mit viel Geld künstlich am Leben gehalten wird. Namhafte Wissenschaftler, wie Prof. Dr. Klaus Beckmann, Akademie für Raumforschung- und Landesplanung, Prof. Dr. Rainer Klingholz, Leiter Berlin-Institut für Bevölkerung, weisen schon seit Jahren auf diese Unangemessenheit hin.

Es gibt zwei zentrale Herausforderungen/Anlässe für eine Neuinterpretation des Begriffs, „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Der Wandel im Staatsverständnis, weg vom fürsorgenden Wohlfahrtsstaat sowie die Globalisierung der Ökonomie. Sie befördert die Intensivierung des internationalen Wettbewerbs und erfordert beschleunigten wirtschaftsstrukturellen Wandel, den wir und unsere Wirtschaft hier in der Region stemmen müssen.

Fazit: Aus Sicht der Freien Wähler müssen für eine zeitgemäße Raumordnung

– überholte Ausgleichs- und Verteilungsziele auf der einen Seite

– mit realistischen Entwicklungszielen und – perspektiven auf der anderen Seite

abgewogen werden, um zu zukunftsfähigen, nachhaltigen Vorgaben für Förderpolitik und Sonderprogramme zu kommen. Die Freien Wähler danken der Geschäftsstelle für das Aufgreifen des Themas. Es ist ein Appell an uns alle und unsere Volksvertreter in Land und Bund, für die Interessen unserer Region einzutreten.

 

 

 

 

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